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Auf der Erde

Soshana Afroyim liebt es zu reisen. Seit ich sie das erst Mal im Sommer 1962 im Musée d`Antibes traf, wo ihre Arbeiten ausgestellt waren, ist sie bereits zwei oder dreimal um die Welt gereist, von den Ashrams in Indien zu den Pyramiden in Yucatan.

Soshanas Arbeiten wirken wie ein Reisetagebuch, das Seite für Seite ihre Reisen und die dort gesammelten Eindrücke und visuellen Erfahrungen widerspiegelt und sich dabei eines wechselndes Stils, der von mehr oder weniger abstraktem

Impressionismus zu tachistischer Kalligraphie reicht, bedient. Dies sind Beobachtungen und Gedanken, ausgelöst von der Stimmung des Moments, Situationsskizzen, persönliche Expressionen: ein Atlas von Emotionen und Erinnerungen. Soshana hätte in diesem Stil weitermachen können, wäre nicht plötzlich in New York im Jahre 1968 eine Veränderung eingetreten….

Die Vision der Künstlerin, die gestern noch die Welt durchstreifte, konzentriert sich nun auf die strukturierten Formen, die ihre eigene leuchtende Aura definieren. Sie verweigert spontane Schemata, die passiv Aussagen von gefühlsbetonten Sinnbildern wiedergeben. Ihre Sensitivität verändert sich positiv, sie will nicht mehr nur aufnehmen, sondern übertragen, will nicht fühlen oder interpretieren, sondern sich selbst behaupten.

Soshanas Zeichnungen verlieren ab diesem Zeitpunkt ihre Spontaneität, ihren intimen Charakter. Sie werden monumental und funktional. Innerhalb weniger Monate präsentiert uns die Künstlerin eine Serie von miteinander verbundenen Ideen plastischer Darstellungen, die von leuchtenden Obelisken bis zu einem doppelspiraligen Rodelschlitten Turm reichen.

Die leuchtenden Plexiglasobelisken passen in das Zeitalter der uralten Tradition von Symbolen, von keltischen Menhiren bis zu indianischen Totems. Ohne Zweifel kann man hier auch neuere Einflüsse erkennen, wie z.B. die Türme von Mathias Goeritz, dem mexikanischen Dichter und Stadtplaner oder Erinnerungen an Gio Pontis Pfeile des Lichts. Soshanas Obelisken sind die Leuchtfeuer unserer Zeit: Ziel ist es Menschen dazu zu bewegen, andere treffen zu wollen, Begegnungen zu planen, sich an einem allgemeinen Weg zu orientieren. Die Form dient dem Festhalten der menschlichen Gegenwart in der Wärme des Zusammenseins, die Behaglichkeit eines wieder gefundenen Weges: ein menschliches Symbol aus uralter Zeit transferiert in die Gegenwart; ein ewiges Symbol, das zugleich auch zeitlos ist.

Das monumentale Symbol kann andere, komplexere Dimensionen annehmen, wie z.B. die eines umgedrehten "Z", die farbenprächtige Erscheinung eines Lichtblitzes. Diese Beobachtung führt uns zurück zum Tagebuch. Ein überdimensionaler Schaumstoff-Kaktus dient als Kinderspielplatz. Wieder Mexiko! Auch die Mythologie ist ständig als Inspiration präsent. Die klaffenden Kiefer von Jonahs Wal verwandeln sich in ein Panoramarestaurant: vorgespannte

Betonbögen und freitragende Plexiglas Abteilungen. Eine moderne Version des Turms zu Babel, eine spiralförmige Struktur in abgebrochenen Segmenten, formt sich zu einem Rodelschlitten.

Die Industrialisierung der Konstruktionstechnik und die Entwicklung von Beton und Plastik nehmen das utopische Element aus Soshanas Projekten. Wird sich eine Gelegenheit bieten? Wird sie im Stande sein, ihre großen Kinderspielzeuge für das Vergnügen von Erwachsenen auszuführen? Diese spielerische Form der Architektur passt wunderbar in die soziale Funktion der Kunst in unserer sich wandelnden Gesellschaft. Die Architektur von morgen wird durch die Wiederentdeckung dichterischen Ausdrucks leben. Es war höchste Zeit, dass die Maler die Elfenbeintürme ihrer Ateliers verlassen und den Geist des Festes intensiv ausleben: Das ist der Preis für die Umgestaltung unserer täglichen Routine. Das starke Bedürfnis unserer heutigen Zeit nach visueller Umsetzung ist weder der Luxus der Industrialisierung, noch eine Illusion der Massenmedien. Es zeugt vom Überlebensinstinkt einer Gesellschaft, die stark von der Wissenschaft geprägt ist und deren Heil in der Beständigkeit von Menschlichkeit in technischen Errungenschaften, liegt.

Soshanas spielerische, architektonische Konzeption kommt ihrem Spielzeugmodell nahe, welches aus magnetischen Strukturelementen besteht, welche je nach Lust und Laune des Benutzers zusammen und wieder auseinander genommen werden können. Es ist eine Art von Meccano, von Vasarely oder Agam angepasst. Obwohl es ein Spielzeugmodell ist, erlaubt es doch reine Zufallsergebnisse. Eine Befreiung des Geistes durch das Spiel der Finger.

Dieses Kunst-Spiel oder diese Spiel-Kunst erlaubt unzählige Übereinstimmungen und Überschneidungen. Am Beginn der Geburt einer Sprache sind wie erwartet alle Ideen noch im Fließen. Lasst uns Soshana keine Vorwürfe machen, dass sie etwas spät ihren Weg zu diesem bezaubernden Gebiet fand, welches auch eine tätige Involvierung in die Veränderung unserer Welt umfasst. Alle Wege führen nach Rom. Ihr Weg war lange. Sie war so ehrlich, nicht einfach die Entwicklungsstufen ihres Erfolges auf dem Weg zu verwischen, sondern kilometerlang Gefühle, Gedanken und Hoffnungen anzusammeln. Diese Ehrlichkeit wird Früchte tragen, sobald Soshana endgültig in die wirkliche Welt zurückkehren wird, die Welt aller Menschen.

Pierre Restany, Paris 1969, Kunsthistoriker und Kunstkritiker